Dienstag, 30. Oktober 2012

Rue Darwin - Roman

Rue Darwin von Boualem Sansal
Deutsche Übersetzung von Christiane Kayser


„Geh, kehre in die Rue Darwin zurück“ hörte Yazid eine Stimme aus dem Jenseits. Er bekam eine Gänsehaut. Er stand am Bett seiner gerade gestorbenen Mutter, seine Schwestern und Brüder neben ihm. Sie haben nichts gehört. Zurückzukehren hieße sich zu erinnern, an sein Leben als Kind in der Rue Darwin im Stadtteil Belcourt in Algier. Wollte er das? Hatte er nicht damit abgeschlossen?

Zerrissene Familienbande
Seine Schwestern und Brüder leben inzwischen in Kanada, Amerika, Frankreich, einer ist in Afghanistan vom rechten Weg abgekommen, nur Yazid ist in Algerien geblieben.
Yazid hat sich sein Leben lang ...

Yazid hat sich sein Leben lang um die Mutter gekümmert und ist mit ihr nach Paris geflogen, damit ihr die dortigen Ärzte helfen, vor allem aber, damit er seine Schwestern und Brüder einladen konnte, ihre Mutter noch einmal zu sehen, wie sie es sich so gewünscht hatte, was in Algerien unmöglich gewesen wäre.
Nun waren sie alle zusammengekommen, nach so langer Zeit der Trennung. Jeder hatte Familie, lebte sein Leben, Yazid als der Älteste, versuchte die Familienbande aufrecht zu erhalten. Früher schrieben sie sich Briefe, später telefonierten sie, heute schickten sie sich E-Mails. Wenn es Yazid nicht tat, erfuhren sie nichts voneinander. Aber mit der Zeit wurde der Kontakt weniger, die Nachrichten seltener, wie in so vielen Familien, wo die Kinder woanders wohnen als ihre Eltern, auch anderswo auf der Welt.

Auf dem Weg zur Wahrheit
„Kehre in die Rue Darwin zurück“ heißt auch seine andere Welt zu suchen, die Yazid verdrängt hatte, die Zeit seiner Kindheit, die Zeit seiner Großmutter Djeda eine der mächtigsten Frauen ihrer Zeit, und die Wahrheit.
Und eines Tages ging Yazid in die Rue Darwin. Auf dem Weg dorthin erinnert er sich an seine Zeit aus Kindertagen, als er und seine Geschwister und Freunde „das Viertel beherrschten“, das sie gegen die „Eindringlinge“ der anderen Stadtviertel verteidigten und für ihre Freiheit. Eine Freiheit, die heute durch die Religion und die Regierung eingeschränkt ist, bis man sich als Gefangener fühlt.
Die Rue Darwin gibt es noch, sie heißt heute Mohamed Benzineb und liegt mitten in Algier, im Stadtteil Mustapha unweit vom Hafen. Sie wurde vielleicht nach einem Märtyrer der Revolution oder einem Imam benannt, Yazid erinnert sich nicht.

In der Rue Darwin
Und plötzlich steht er in der Rue Darwin. Ihm wird schwindelig, er schließt die Augen, als er sie öffnet, sieht er sich ins Jahr 1957 zurückversetzt, inmitten des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich. Er war acht Jahre alt und kam aus dem kleinen Dorf Bordj Dakir, das etwa dreihundert Kilometer entfernt in der Ouarsenis liegt im Westen Algeriens. Schon als Achtjähriger hatte er eine bewegte Vergangenheit hinter sich gebracht. Er lebte bei seiner Großmutter Djeda auf dem Lande und kam nun zu seiner Mutter, seinem Stiefvater und der kleinen Souad, seiner Halbschwester, die gerade ein Jahr alt war.
Yazid brauchte eine Weile, um die Bilder, die sich in seinem Kopf bewegten zu ordnen, Gesichter aus lang vergangen Zeiten erschienen in seinem Gedächtnis. Es war im Jahr 1954, er war gerade fünf Jahre alt, als sein Vater bei einem Autounfall ums Leben kam. Yazid sah viele Menschen, die zur Beerdigung kamen. Er kannte niemanden, doch sie gehörten zum Clan der Kadri, und er war der Erbe.
Der Erbe eines Reiches, das seine Großmutter Lalla Sadia, die alle nur Djeda, Großmutter, nannten, beherrschte. Ihr gehörten Bordelle in vielen Städten Nordalgeriens und Marokkos. Bis nach Paris und Vichy, Marseille und Nizza reichte ihre Macht und selbst höhere Beamte, französische Generäle, algerische Colonels, spätere Präsidenten kamen zu ihr, der Beherrscherin des mächtigsten Clans Nordafrikas bis ins Jahr 1963. Dieser Clan war ein Staat in sich mit Handwerkern, Bauern, leichten Mädchen, vielen Hilfsarbeitern, Djeda nahm alle bei sich auf, sie gab allen Arbeit. Sie beschäftigte Anwälte, Schreiber, „arabisch gebildete Intellektuelle“, so wie sie sie brauchte. Und Yazid war der Erbe dieses Imperiums, das nach dem Unabhängigkeitskrieg Algeriens, der von 1954 bis 1962 dauerte, in sich zusammenbrach. Geerbt hat er nichts bis auf die Erinnerungen. Und doch war da noch die Wahrheit, die er suchte, und er fand seine Geschichte, in der Rue Darwin, in Paris bei Jean, bei Farroudja….

Yazid in der Geschichte Algeriens
In seinen Gedanken durchlebt Yazid die neuere Geschichte Algeriens mit den vielen Kriegen, die nach dem Unabhängigkeitskrieg folgten, der Unterdrückung durch die eigenen Machthaber und der sogenannten „Schwarzen Jahre“ der 1990er, die so vielen Algeriern das Leben kostete. Er ist immer mittendrin. Seine Familiengeschichte wird von den Ereignissen beeinflusst, der Clan löst sich auf, die Geschwister und Halbgeschwister werden in alle Welt verstreut oder Opfer der Kriege. Nur er, Yazid bleibt in Algerien, pflegt seine Mutter.

Findet Yazid die Wahrheit?
Er erzählt seinen Geschwistern über Algerien während ihres Aufenthaltes in Paris und lebt seine Kindheit, seine Jugend nach. Er findet in Paris den Freund und Arbeitgeber seines Bruders Daoud, die wahre Geschichte über ihn, seine Mutter oder doch nicht seine Mutter? Wo sind Faiza und Bariza, seine andere Familie? Wie starb die Großmutter? Findet er die Wahrheit oder kennt er sie vielleicht schon? Sollte er seinen Geschwistern von seinem zweiten Leben erzählen? Lieber nicht, manchmal ist es besser zu schweigen.

„Geh zurück in die Rue Darwin“ hörte er die Stimme, aber seine Mutter sagte: „Geh zu Farroudja“.


Fazit
Es ist ein bewegendes Buch. Mit Yazid und seinen beiden Familien durchlebt der Leser dessen  Gedanken, Erinnerungen, Familiengeschichten, Kriege, Gewalt, Überlegungen über das Leben, die Wahrheit, den Tod, Freundschaften und Verluste, wenig Liebe und viel Hass. Daneben erfährt er etwas über die Geschichte Algeriens von 1954 bis in die Gegenwart.
In der Ich-Form geschrieben mit wenig wörtlicher Rede, aber großem Ausdruck in den einfachen Worten des brillanten Schriftstellers Boualem Sansal. Es gibt einige Sprünge von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück, so wie man sich selbst erinnert und dann in der Gegenwart weiterlebt.
Es ist ein beeindruckendes Buch, man sollte es mehrmals lesen, um die feinen Nuancen zu erkennen.

Autor
Boualem Sansal ist ein wunderbarer Erzähler. Er nimmt den Leser mit in seine Welt in der Rue Darwin in Algier und erzählt die Geschichte des Lebens von Yazid, welches ohne Zweifel seinem eigenen Leben sehr nahe kommt.
Boualem Sansal ist auch ein Analytiker. Er analysiert die Geschichte Algeriens der letzten 58 Jahre, in der dem algerischen Volk sehr viel, zu viel Unrecht und Leid des eigenen Regimes angetan wurde, von Diktatoren und Generälen des Militärs und Geheimdienstes, die die Ausbeutung des algerischen Volkes durch die französische Kolonialmacht fortsetzen.
Boualem Sansal ist auch ein Aufklärer, der seinen Landsleuten Mut zuspricht, sich zu äußern, Unrecht anzuklagen, mit seinen Mitmenschen, Kindern und Enkeln zu diskutieren, die Geschehnisse, die Ungerechtigkeiten anzuprangern und aufzuklären. Er schreibt auf, was die Algerier zwar wissen, aber Angst haben zu sagen und nimmt das Risiko auf sich, von der Regierung gemaßregelt, am Schreiben gehindert zu werden und Schlimmeres, in dem er die Tatsachen beim Namen nennt.
Boualem Sansal ist ein mutiger Mann, der 2011 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, eine wichtige Bereicherung für die Literatur und ein liebenswürdiger Mensch.

Rue Darwin
Roman von Boualem Sansal
Merlin Verlag, Gifkendorf
1. Auflage 2012
Hardcover, 268 Seiten