Mittwoch, 23. September 2020

Rezension: Minarett, Roman aus dem Nordsudan

Minarett   

Leila Aboulela

Das Minarett ist der Turm bei einer Moschee. Der Name geht auf Manara, arabisch für Leuchtturm zurück. Und wie ein Leuchtturm für die Seele steht für Nadschwa das Minarett in London, an dem sie jeden Tag vorbeigeht. Dass sie auch in die Moschee hineingehen könnte, erkennt Nadschwa erst später.

Sie sind schon eine privilegierte, westlich orientierte Familie. Die Mutter ist reich, sie heiratet nach ihrer Scheidung einen Mann, der mehr auf ihr Geld und einen erfolgreichen Posten in der Regierung schaut. Sie haben ein großes Haus, Autos und viele Hausangestellte. Nadschwa und ihr Zwillingsbruder Omar vergnügen sich in Clubs und auf Partys, beide studieren in Khartum mehr oder weniger erfolgreich. In den Ferien reist die Familie nach Europa, in London hat sie ein Appartement. Kurzum, der nordsudanischen Familie geht es sehr gut. Religion schert sie wenig. Während des Ramadan schaut sie mehr auf „die Linie“ und zu viele „Pfunde“ als auf religiöse Pflichten.

Plötzlich ändert sich die Situation im Land. Sudan, jetzt Nordsudan, ist von einem Putsch getroffen und Nadschwas Vater wird Korruption vorgeworfen. Er soll der Mann hinter dem Präsidenten, der „Drahtzieher“ der Regierung gewesen sein. Gerade will er am Abend des Putschs mit seinem Auto aus der Stadt verschwinden, da blockiert ein Auto seine Ausfahrt und er wird abgeholt. Kurz darauf wird er gehängt.

Von einem Tag zum anderen muss die Familie flüchten. Die Mutter reist mit ihren Kindern nach London, wie eine Flucht kommt es ihnen zuerst nicht vor. Dann wird die Mutter sehr krank und stirbt. Omar verstrickt sich in Drogendelikten und muss für lange Zeit ins Gefängnis. Und Nadschwa wundert sich über ihre „neue Freiheit“, in der sich niemand um sie kümmert bzw. es kümmert niemanden, was sie tut und es stört auch niemanden, was sie tut. In einer Millionenstadt wie London bleibt sie anonym, was in Khartum undenkbar gewesen wäre, immer stand sie unter Beobachtung, durch die Hausangestellten, durch Klassenkameraden, durch die Gesellschaft an sich.

Nach und nach verliert Nadschwa ihren Wohlstand und befindet sich plötzlich selbst in der Situation, sich als Hausangestellte ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Sie erinnert sich an die Lage der Diener in ihrem Elternhaus in Khartum und nun ist sie nicht mehr besser als sie. In London lebt auch ihre Tante  und andere Sudaner, mit denen Nadschwa Kontakt hat. Teilweise geht es diesen besser, weil sie nicht so sehr im Rampenlicht standen wie Nadschwas Familie, die sich vor Verfolgungen schützen muss.

In diesem Buch gibt es zwei Handlungsstränge. Zum einen die aktuelle Situation, in der sich Nadschwa in London befindet und zum anderen die Zeit in Khartum ab 1984 und die Erinnerungen daran.

Fazit:

Die Autorin Leila Aboulela beschreibt nachvollziehbar die Gefühle der Menschen, die im Roman agieren. Die Zerrissenheit Nadschwas, die Freiheit ihres Tuns in London, ohne dass jemand Notiz davon nimmt, die Freiheit in Khartum, die sie nur hat, weil sie und ihre Familie zur Oberschicht gehört wird deutlich dargestellt. Auch den anderen Figuren geht es ähnlich. Dadurch erreicht die Autorin, dass man länger über den Inhalt nachdenkt.

Wie oft, wenn sich der alltägliche Trott plötzlich ändert, sich das Schicksal dreht und man nicht mehr aus noch ein weiß, sehnt man sich nach Geborgenheit und wenn diese nicht bei Partnern oder in der Familie gefunden wird, wird die Religion plötzlich wichtig. Dabei ist es egal, ob man Muslim oder Christ ist, das Gefühl ist dasselbe. So ergeht es Nadschwa und bei ihr ist es der Gang  in die Moschee, in anderen Kulturen geht man in die Kirche, aber der Gedanke ist gleich. Am Ende ist es ihr tatsächlich möglich eine Pilgerreise nach Mekka zu unternehmen.

Ein fesselnd geschriebener Schicksalsroman.

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