Sonntag, 13. Mai 2018

Rezension: Madame LaFrance

Sujet
Rezension

MAISSA  BEY

Madame LaFrance                   

Das Kind hütet Ziegen, es schaut auf das Meer und sieht Schiffe aus dem morgendlichen Dunst auftauchen, immer mehr, Hunderte mit Matrosen und Soldaten und Kanonen.

Die  weiße Stadt erwacht, es ist Algier am Ende der osmanischen Zeit. Die Einwohner wissen noch nicht, was das Kind schon gesehen hat. Bald werden sie sich an die Kämpfe erinnern müssen. Es ist der 14. Juni 1830, als 37000 Mann einige Kilometer westlich von Algier an Land drängen und die weiße Stadt erobern. Der Beginn der Unterdrückung, Ausbeutung und des französischen Terrors in Algier, Oran, Constantine und allmählich des ganzen Landes.

Madame LaFrance ist angekommen.

Sie bringt kräftige Männer mit, die für sie die Sümpfe trocken legen, die für sie Straßen und Brücken bauen, die für sie Eisenbahnlinien verlegen, die für sie und nur für sie Felder bestellen und reiche Ernte einfahren, die das Mutterland dringend benötigt.

Madame LaFrance ist ehrgeizig.

Sie will, dass die Kinder der Araber zur Schule gehen und ihr Land lieben. Deshalb müssen sie jeden Morgen den Satz wiederholen: Ich liebe mein Land, Frankreich.
Wenn die Väter und Mütter des Landes sich wehren, werden sie in Höhlen getrieben mitsamt ihren Kindern, Nachbarn, Ochsen und Pferden. Dann wird die Höhle verschlossen und angezündet. Ganze Dörfer wurden dadurch ausgerottet. Warum ist das Kind an diesem Morgen aus dem Zelt gekrochen und hat sich auf dem Hügel versteckt? So hat es das Unglück mitansehen müssen. Allerdings kann es dadurch von dem Unfassbaren berichten, später, wenn es groß ist. Denn einem Kind würde man nicht glauben.

Madam LaFrance ist stolz.

Endlich ist es geschafft. Die Aufrührer vernichtet, das Land besetzt  und eingenommen. Nun können die Siedler kommen. Lange genug hat es gedauert und schwierig war es, die Aufstände niederzuschlagen. In Amerika ging es besser. Die Rothäute wurden mit Feuerwasser besiegt, aber die Araber trinken nicht. Andere Mittel mussten angewendet werden.

Madame LaFrance kann sich auf ihre treuen Untergebenen verlassen.

Ihre Barone, Fürsten, Akademiker, Soldaten der französischen Revolution. Dass ihre Strategien in Algerien auf so großen Widerstand stoßen, damit hat Madame nicht gerechnet. Dieses „hinterwäldlerische Volk“ wird nicht gehorsam, nicht dankbar, wehrt sich, hinterfragt die Macht von Madame LaFrance, will sie verjagen, dieser Emir Abdelkader und seine Anhänger, was erlaubt er sich?
Aber ihre treu ergebenen Strategen haben Erfahrung, sie werden mit den „zerlumpten, schmierigen Habenichtsen..“ schon fertig. Die Siedler vertreiben die rechtmäßigen Besitzer von ihren Feldern und siedeln ganze Dörfer um, trennen Familien und sperren sie in Lager.

Madame LaFrance hört nicht auf die warnenden Stimmen.

Sie hört nur, was sie hören will. Sie ist die „Herrscherin über ihre Ländereien“ und erfreut sich beim Anblick der Kirchen und Paläste auf denen die Trikolore in der afrikanischen Sonne flattert. Auf den Rathäusern liest sie zufrieden die Worte: „FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT“. Sie glaubt, ihre algerischen Kinder haben sich mit ihrer Präsenz abgefunden und lieben ihr neues Vaterland, für das sie schon in den Krieg ziehen mussten, im fernen Europa (1870/71).

Das Kind sieht alles, hört alles, es lernt, es geht zur Schule und lernt. Die Lehrerin redet von Zivilisation, sie wiederholt das Wort oft. Davon, dass sie aus den Kindern kleine gute Franzosen machen wird, die sauber sind, sich jeden Morgen waschen, rechnen und Französisch lernen. Sie will ihnen beibringen, wie man „Gemüse und Obstbäume“ anpflanzt, Frankreich, das Heimatland zu lieben, nützlich und ehrlich zu sein.

Das Kind weiß eigentlich gar nicht, was das Wort Zivilisation für es bedeuten soll. Denn schon bevor Madame LaFrance in sein Land kam, konnten der Vater und der Großvater das Land bestellen, es gab Oliven, Feigen, Orangen, Weintrauben in Hülle und Fülle, sie lebten gut von der Ernte. Sauber sind sie auch, denn vor jedem Gebet wäscht man sich, nicht nur einmal am Morgen, sondern fünfmal am Tag!  Sie konnten auch schon lesen, bevor Madame LaFrance kam, nämlich arabisch und den Koran.

Das Kind fragt sich, ob Zivilisation heißt so zu werden, wie die Franzosen? Aber wie soll es ein guter Franzose werden, wenn es bereits ein guter Araber ist ?
Das Kind traut sich nicht, seine Lehrerin Madame LaFrance dies zu fragen, es erträgt das Schicksal „Mektoub“ - noch!

Madame LaFrance ist vorsichtig.
Die Gewehre sind stets geputzt und einsatzbereit.

Das Kind sieht die Entwicklung voranschreiten. Es sieht, wie sich Madame LaFrance feiern lässt, mit einem großartigen Jahrmarkt in Paris zum 100jährigen Bestehen der Kolonie in Algerien.
Es beobachtet die schweren, grausamen Schicksalsschläge, die sein Land noch erleben muss, bevor es endlich zurückschlägt und die elenden französischen Terroristen aus seinem Land vertreiben kann.

Autorin:
Maissa Bey heißt eigentlich Samia Benameur und wurde 1950 in der Nähe von Algier geboren. Sie studierte Romanistik und arbeitete als Pädagogin. Im Kontext der blutigen Auseinandersetzungen, die ihr Land während des sogenannten schwarzen Jahrzehnts (1992-2002) überkamen, begann sie unter dem Namen ihrer Großmutter zu schreiben. Maissa Bey, die sich selbst als „Araberin von Geburt, Kultur und Sprache, tief geprägt von der muslimischen Kultur und Tradition“ bezeichnet, wählt die Ausdrucksform der Literatur, um mehr zu sein als eine stumme, passive Zeugin im Angesicht ihrer gewaltsamen und herausfordernden Zeitgeschichte.
Maissa Bey lebt und arbeitet in Sidi Bel Abbes in Algerien. (Verlag)


Fazit:
Maissa Bey untersucht in ihren Büchern Ausgeblendet und Madame LaFrance die Beziehung zwischen Algerien und Frankreich. Dazu greift sie einzelne Tatsachen aus der Geschichte auf,  um menschliche Schicksale (Begegnung zweier Personen, Verhöre, Folter, Tod in Ausgeblendet) oder die Kolonialisierung Frankreichs in Algerien (Madame LaFrance) zu beleuchten.
Sie macht sich intensiv Gedanken, wie diese unmenschliche, grausame Zeit für heutige Leser nachvollziehbar wird und entwickelt die Allegorie des unschuldigen Kindes, das mitansehen muss wie ihm sein Land von Fremden weggenommen wird. Es kann nicht verstehen, warum Fremde kommen und diktieren, was seine Eltern, Geschwister, Nachbarn zu tun und zu sagen haben - erstaunt, hilflos und machtlos.
Das Kind Algerien beobachtet die arrogante Dame Frankreich, die sich in seinem Land breitmacht, nimmt, was es will.
Aus der Sicht der Madame Frankreich stellt sich die Geschichte anders dar. Man muss den „Wilden“ die Zivilisation bringen. Wenn sie die nicht annehmen, müssen sie vernichtet werden. Wir werden es ihnen schon zeigen, wie das geht. In unserem Land, denn Algerien gehört zu Frankreich.

In 25 Kapiteln werden 132 Jahre Kolonialisierung und der Widerstand dagegen präzise reflektiert und ergreifend dargestellt. Ein Kind, das beobachtet und erlebt ist für den Leser ein besserer Protagonist als eine unpersönliche Masse von Menschen in einem Land. Und Frankreich die Persönlichkeit einer „Madame“ - einer Diva - zu geben, die das Kind bedroht, wirkt für den Leser greifbarer und nachvollziehbar, als nur die Beschreibung unpersönlicher Tatsachen der Geschichte als Ganzes - ein genialer Einfall der Schriftstellerin.

Ein intensives, beeindruckendes und betroffen machendes Buch, weil es die Taten und Tatsachen ausspricht und nicht „unter den Teppich kehrt“ oder „Ereignisse“ daraus macht, die während der Besetzung Frankreichs von 1830 bis 1962 und während des Unabhängigkeitskrieges von 1954 bis 1962 geschehen sind.
Ein herausragendes Dokument, unbedingt lesenswert.

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