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Bilqiss |
Rezension
SAPHIA AZZEDDINE
BILQISS Roman
Man stelle sich folgende Situation vor: Ein Muezzin, der
betrunken und unfähig ist, die Gläubigen zum Gebet zu rufen! Was macht seine
Frau? Sie bittet ihre Nachbarin um Hilfe. Da es schnell gehen muss und die
nächste Moschee weit entfernt ist, nimmt sich die Nachbarin die Freiheit und
steigt selbst auf das Minarett und ruft zum Morgengebet. Eine verrückte Idee. Nicht
nur, dass sie als Frau dieses Amt in diesem Moment übernimmt, sie erlaubt sich
auch gleich den Bäcker, Gemüsebauern, Gärtner, die die Gemeinde ernähren und
den Lehrer für Geschichte und Geographie, die sie vom Minarett aus sieht, im
Namen Allahs für ihre vollbrachten und guten Taten zu loben. Welche
Ungeheuerlichkeit in einem streng islamischen Land, in dem Frauen die Burka tragen
müssen und auch sonst nichts zu sagen haben.
Es war einmal in einem
islamischen Land
Das Land selbst wird nicht genannt. Man kann sich einige
Länder vorstellen, in denen die Handlung spielen könnte. Einige amerikanische
Soldaten sind in dem Ort stationiert, der nicht näher benannt wird.
Nach dem sich die Leute den Schlaf aus den Augen gerieben
haben und von der ersten Überraschung schockiert aufgeschreckt sind, wurde
Bilqiss, so der Name der Nachbarin, verhaftet und ins Gefängnis gebracht.
Dieser Name wurde von der Autorin nicht grundlos ausgewählt. Bilqîs, Bilkis
oder Balkis ist der Name der sagenhaften, klugen und schönen Königin, der Herrscherin
von Saba, die nach Jerusalem zu König Salomon, im Islam unter König Suleyman
bekannt, reiste.
Aubergine als
Phallus-Symbol
Nach der Durchsuchung ihres Hauses kommen weitere „Todsünden“
zum Vorschein: Damenunterwäsche, Seidenstrümpfe, Make-up, Stöckelschuhe,
Musikkassetten, Zeitungen, persische Gedichtsammlungen, also „alles, was Männer
in Versuchung führen könnte“. Den Computer, das „Tor zur freien Meinungsbildung“
haben sie nicht gefunden. Sogar die Aubergine und Zucchini aus dem Kühlschrank
werden beschlagnahmt! Sie dürfen nur in Stücke geschnitten auf dem Markt an
Frauen verkauft werden, denn die Form könnte Frauen an einen Phallus erinnern
und erregen, ereifert sich Herr Karzi, der Hauptankläger. Das Urteil kann also
nur Tod durch Steinigung lauten. Für die Männer im Dorf gibt es keinen Zweifel.
Bilqiss und der
Richter
Um vor tätlichen Angriffen geschützt zu sein, muss Bilqissin
einem Käfig die Gerichtsverhandlungen überstehen. Der Richter zögert das Urteil
vollstrecken zu lassen. Im Gegenteil, er geht zu Bilqiss ins Gefängnis. Was
will er dort? Nacht für Nacht diskutieren
Bilqiss und der Richter, dem allmählich Zweifel an dem Urteil kommen. Wenn sie
sich doch nur entschuldigen würde, dann könnte er Bilqiss retten…
Selbst ist die
Frau
Aber Bilqiss denkt nicht daran, denn sie hat nichts Unrechtes
getan. Bilqiss, die auch noch Witwe ist, hat nichts zu verlieren. Sie wurde bereits
verurteilt. Frei und selbstischer verteidigt sie sich und wehrt alle
Anschuldigungen ab, im Gegenteil, sie führt dem Richter und auch den Zuhörern
die absurden Gedanken der „Sittenwächter“ vor Augen und widerlegt mit Hilfe ihres
gesunden Menschenverstands und des Korans, den sie nach ihrem Empfinden
interpretiert, die Vorwürfe. Was hat sie getan? Sie rief die Gläubigen zum
Gebet und fügte einige Sätze hinzu. Sollte das schon ausreichen, um sie zu
steinigen? Islamische Rechtsgelehrte diskutieren um ein „juristisches Exempel zu
statuieren“. Aber wie sollte die Strafe ausfallen?
Gotteslästerung
oder Wahnsinn ?
„Handelte es sich um Gotteslästerung oder war es eine
Ausgeburt des Wahnsinns? Darum drehten sich die Betrachtungen der Muslime von
heute, während woanders Leute zum Mond flogen. … Seit sieben Jahrhunderten…
zahlte die muslimische Welt einen hohen Preis dafür, dass sie ihrer weiblichen
Hälfte Maulkörbe anlegte….Weit zurück lag die Zeit, als der geistige Wert eines
Muslims sich nach der Anzahl der Bücher in seinem Besitz richtete, als
Bibliotheken… aus dem Boden schossen und Moscheen nicht nur Gebetshäuser waren,
sondern das Wissen verkörperten an dem Männer und Frauen unterschiedslos
teilhaben konnten...“ klagen Bilqss und die Autorin zu Recht an.
Der Fall wird
international
Inzwischen hat jemand die Gerichtsverhandlungen gefilmt
und im Internet verbreitet. Dies sieht eine amerikanische Journalistin, die
sich auf den Weg macht, um Bilqiss zu interviewen. Kann sie Bilqiss retten oder
kommt sie zu spät?
Autorin:
Saphia Azzeddine
wurde 1979 in Agadir/Marokko geboren. Als 9jährige zog sie nach Frankreich.
Nach dem Soziologiestudium verbrachte sie ein Jahr in Houston, arbeitete als
Diamantschleiferin in Genf und
etablierte sich dann als Journalistin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin.
Im Wagenbach-Verlag erschienen außerdem ihr Roman
Zorngebete (
Buchbesprechung hier) und
Mein
Vater ist Putzfrau.
Fazit:
Saphia Azzeddine beschreibt mutig und selbstbewusst die
arrogante Sichtweise vieler Männer (nicht nur) in der islamischen Welt.
Höhepunkt deren Genugtuung ist die Steinigung, die Vernichtung des Weiblichen,
das sie reizt und von der religiösen Bigotterie ablenken könnte. Welche
Absurditäten und Auswüchse dieses krude „Männerdenken“ zu Tage fördert, belegt
die Autorin mit zahlreichen und auf den Punkt formulierten Beispielen. Sind die
Szenen vielleicht übertrieben dargestellt ? Das mag der Leser selbst
beurteilen, die Autorin stellt nur fest, sie verurteilt nicht.
Die Amerikaner, die „hilfreichen Soldaten“ und die „mitfühlende
Journalistin“ werden vorgeführt und mit ihren eigenen „Waffen“ (Arroganz und
Sensationslust) geschlagen.
Nur weil sich der Richter in Bilqiss verliebt, zögert er
die Verhandlung in die Länge, das heißt auch er denkt vorrangig an sich und
seine Phantasien…
Ein genial geschriebenes Buch, nicht nur über „muslimische“
Männerphantasien, das man gelesen haben sollte, eingebettet in einen Rahmen,
der an die Geschichten aus 1001 Nacht erinnert. Gleichzeitig eine Anklage an
die Rückständigkeit der islamischen Obrigkeit, während die Menschen schon viel
weiter sind. Eine echte Bereicherung, sehr gut.
Veranstaltungstermine
Mittwoch, 19. Oktober 2016
Stuttgart Stadtbibliothek
Donnerstag, 20. Oktober 2016
Karlsruhe, Centre Culturel Franco-Allemand
Montag, 28. November 2016
Berlin, Heimathafen Neukölln