Donnerstag, 29. Oktober 2020

Rezension: Eine fremde Tochter

Orlanda
Eine fremde Tochter           

 
Najat el Hachmi
 
Sie ist eine von vielen jungen Marokkanerinnen, die in Spanien leben. Mit ihrem Vornamen wird die Ich-Erzählerin in Dialogen nicht gerufen - eine unbekannte Marokkanerin in Europa also. Sie steht für viele Frauenschicksale, egal ob sie aus Marokko, ganz Nordafrika oder dem arabischen Raum stammen, alle könnten dasselbe erlebt haben wie die Protagonistin.
 
Ihr Vater gehört zu den frühen Marokkanern, die in  Spanien eine Arbeit gefunden haben. Nachdem die Unterstützung für die Familie im marokkanischen Rifgebirge ausbleibt, machen sich Frau und Tochter auf den Weg, um ihren Mann und Vater zu suchen. Als sie ihn gefunden haben, müssen sie erkennen, dass er eine andere Familie hat. Die Ehefrau wird mit dem Spruch abgewiesen, dass er sie nicht gebeten habe zu kommen.
 
Doch Mutter und Tochter bleiben in Katalonien und nehmen ihr Leben selbst in die Hand. Die Tochter steht ihrer Mutter bei und hilft ihr so gut sie kann. Daneben gibt es noch die Marokkanerinnen, die ebenfalls in Spanien leben und die Familie der Mutter in Marokko, die sich über den Besuch freut.
 
Die Tochter geht zur Schule, lernt nicht nur die katalanische und spanische Sprache, sondern auch die europäische Literatur und Kultur. Sie steht sogar einmal im Rampenlicht der Stadt.
So wächst die Tochter zur Erwachsenen heran, hört von den Traditionen, die ihr die Mutter und deren Freundinnen versuchen näher zu bringen, lernt auch die Sprache der Mutter, aber nie so ganz. Sie lebt im Spanien von heute. Bei den Besuchen in Marokko kommen ihr Kindheitserinnerungen in den Sinn. Aber so ganz kommt sie nicht in Marokko an und will es auch nicht.
 
Nun ist die Tochter volljährig, sie will die Mutter verlassen, sich aus der Umklammerung lösen, aber sie bringt es vorerst nicht über ihr Herz, die Mutter allein zu lassen. Immer mehr stellt sie ihre eigenen Ziele (Studium, eigene Wohnung, etc.) zurück. Sie gibt sogar nach, als ihre Mutter, die keine Rücksicht nimmt, aber sehr auf den guten Ruf der Familie bedacht ist, die Ehe mit dem Sohn ihres Bruders, also ihren Cousin, arrangiert. Da es der Cousin ist, soll sie doch froh sein, dass die Hochzeit „in der Familie“ bleibt und sie keinen Fremden heiratet, obwohl sie ihn seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hat.
 
Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf, einen Weg, den sich die Tochter nicht gewünscht hat, aber aus Liebe zur Mutter geht.
Mutter und Tochter arbeiten noch mehr, damit sie das Geld für die Hochzeit und die Überfahrt für den zukünftigen Cousin-Ehemann aufbringen können, damit er nach Spanien kommt.
 
Innerlich rebelliert die Tochter gegen ihre eigenen Entscheidungen und dies geht so weit, dass sie eines Tages zusammenbricht.
 
Fazit:
Najat el Hachmi greift ein Thema auf, das viele Frauen (nicht nur Migrantinnen) betrifft. Um dem Ruf der Familie nicht zu schaden, nimmt die Tochter zu viel auf sich und kommt aus der Abstiegsspirale nicht mehr heraus.
Ich möchte einen Gedanken zitieren, den die Autorin am Ende des Buches zu Recht formuliert, einen Vorwurf, den sich die europäische Gesellschaft gefallen lassen muss. „Alle Prophezeiungen haben sich erfüllt, die über mir dräuten, wie über allen Töchtern der Marokkanerinnen hier: Es lohnt sich eigentlich nicht, sie zur Schule zu schicken, hörte ich einmal jemanden sagen: Sobald sie ein bisschen älter sind, werden sie in ihrem Land verheiratet, und zack Kopftuch, Hausfrau, Kinder kriegen. Aber die Leute, die so reden, denken nie an unsere Einsamkeit und bieten uns keine Alternative; wenn wir gegen unsere Familien aufbegehren, stellen sie uns keinen Ort zur Verfügung, an dem wir Zuflucht finden könnten. Lasst euch nicht gängeln, rebelliert gegen die altmodischen und primitiven Traditionen eures Volks, entflieht der Diskriminierung und dem Sexismus. Aber wenn wir die Brücke überqueren, was erwartet uns auf der anderen Seite? Eine tröstende Umarmung und Hilfe, die wir bräuchten? Oder nicht vielmehr eine eisige Gleichgültigkeit, ein „Sieh zu, wie du zurechtkommst, hier gibt es nichts geschenkt? Und habt ihr je darüber nachgedacht, wer diejenigen sind, die nicht über die Brücke kommen? Versteht ihr nicht, dass man die Schwächsten nicht im Stich lassen darf, jene, die weder das Wissen haben noch die Möglichkeit, frei entscheiden zu können, wie sie leben wollen ? …“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Ein aufwühlendes Buch, sehr gut geschrieben, absolut empfehlenswert.