Samstag, 29. September 2018

Rezension: Was uns kostbar ist

Lenos
Rezension

KAOUTHER ADIMI

WAS  UNS  KOSTBAR  IST     Roman

 Ein Mensch, der liest, ist doppelt wert“ steht auf Arabisch und Französisch geschrieben auf dem Schaufenster in der Rue Hamami Nr. 2 die früher Rue Charras hieß als Algerien noch zu Frankreich gehörte. Das Schaufenster gehört zur Leihbuchhandlung „Les Vrais Richesses“, „die wahren Schätze“ und diese Schätze sind die Bücher, die hier in Algier von Edmond Charlot (1915 - 2004) verlegt, verliehen und verkauft wurden.

2015, nach 80 Jahren, soll die Buchhandlung verkauft werden. Warum eine Stadtbibliothek/Buchhandlung einem privaten Käufer überlassen, der daraus ein Restaurant machen möchte, wo rechts eine Pizzeria und links ein Lebensmittelgeschäft ist ?, fragt sich der Journalist, der über die Schließung einen Artikel schreibt. „Es stört wohl niemanden, dass wir nicht mehr lesen, uns nicht mehr bilden können?“, denkt er. Er notiert „Der Staat verschleudert die Kultur, um an jeder Straßenecke eine Moschee zu bauen! Es gab einmal eine Zeit, in der Bücher so wertvoll waren, dass wir sie respektvoll betrachteten, sie unseren Kindern versprachen, sie geliebten Menschen schenkten!“ Wie wahr.

Der Student Ryad soll die Buchhandlung räumen, alles wegwerfen und die Wände streichen. Er begegnet Abdallah, der dort gearbeitet hat, der ihm von seinem Leben und seiner Arbeit erzählt, als die Buchhandlung eine Außenstelle der Nationalbibliothek wurde. Das war während des algerischen Bürgerkriegs (1991 - 2002).

Die Autorin Kaouther Adimi schreibt aus der Sicht der Bewohner des Viertels in der ersten Person im Plural - das verbindet. Sie blickt zurück: 1930 feiert Frankreich die Einnahme Algiers vor 100 Jahren. Die Algerier beginnen sich Gedanken zu machen. Sie wollen die koloniale Autorität und Unterdrückung nicht mehr länger hinnehmen. „Wir müssen kämpfen, Rechte einfordern, uns organisieren“, sagt der eine und der andre stimmt zu, „wie lange ducken wir uns noch? Der Code de L’indigéant macht uns zu einer Unterkategorie von Menschen in unserem eigenen Land. Hier ist aber unser Zuhause.“

Vor diesem Hintergrund eröffnet der Algerienfranzose Edmond Charlot 1936 seine Leihbibliothek, die gleichzeitig Verlag und Buchhandlung wird. Von einer Reise nach Paris hat er die Idee mitgebracht.
Die Buchhandlung soll ein Ort der Begegnung mit der Literatur, der Freunde und Autoren werden, die „das Mittelmeer lieben“ - auf beiden Seiten. Sein Traum ist, das zu publizieren, was ihm gefällt und dass er „vor der Presse und den Lesern wirklich vertreten kann“. Albert Camus ist von Beginn an dabei, später verlegt Edmond Charlot die Schriftsteller Jean Giono, Jean Amrouche, Jules Roy, Mohammed Dib, Mouloud Feraoun,  André Gide, Kateb Yacine und viele andere. Sein Motto: „Junges, von Jungen für Junge“.

Immer wieder hat Edmond Charlot mit den Wechseln der Geschichte zu kämpfen. 1939 veröffentlicht er als erster das Buch „Noces“ (Hochzeit des Lichts) von Albert Camus und wird zur Armee eingezogen. Im Juli 1940 kehrt er nach Algier zurück. Nur unter Schwierigkeiten betreibt er sein Geschäft weiter, es gibt kein Papier, anderes ist wichtiger als Lesen, die Druckerei ist geschlossen, Geld ist kaum vorhanden. Trotzdem erhält er weiterhin viele Manuskripte und muss die Schriftsteller vertrösten. Die Leser nehmen was da ist.
1942 verbringt er einen Monat im Gefängnis, weil er von Gertrude Stein denunziert wird. Frankreich und Algerien waren von Deutschland besetzt. 1945 wird er wieder eingezogen, dieses Mal nach Paris. „Les Vrais Richesses“ führen seine Frau und sein Bruder weiter. In Paris gründet er einen zweiten Verlag, doch auch in Paris gibt es Schwierigkeiten, nicht nur mit der Papierbeschaffung und den Finanzen, sondern auch mit Konkurrenten. Die Schulden belaufen sich auf mehrere Millionen Franc und so kehrt Edmond Charlot gescheitert 1948 nach Algier zurück. Dann beginnt 1954 der algerische Unabhängigkeitskrieg. Schriften werden zensiert, die Gründung einer Zeitschrift verschoben, Algerier werden gefoltert, ermordet. 1961 werden die zweite Buchhandlung von Edmond Charlot und das Archiv durch einen Bombenanschlag zerstört. Alles ist kaputt, nur noch Schutt und Staub. War es ein Anschlag der OAS? Das Ende Frankreichs in Algerien zeichnet sich ab. Edmond Charlot hat Glück im Unglück. Er erhält eine Arbeit beim Radiosender France 5 Algier.   

Fazit:
Eine unglaublich beeindruckende Arbeit der jungen Schriftstellerin Kaouther Adimi. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen Literatur und Zeitgeschehen her und beleuchtet das Zusammenleben zwischen Algeriern und (Algerien-)Franzosen. Gleichzeitig erinnert sie an die vielen Schriftsteller, die Edmond Charlot durch seinen Verlag bekannt und berühmt machte.
Der Leser erfährt nicht nur, wie schwierig es in der damaligen Zeit war eine Buchhandlung zu führen sondern auch, wie wichtig die Arbeit des Verlags war, der schnell Flugblätter drucken oder ein Theaterstück, das verboten wurde, als Roman herausgeben konnte.
Für die Freunde, die Autoren waren, war Edmond Charlot als Verleger wie ein Vater, der seine Kinder an die literarische Hand nahm und sie immer unterstützte. Trotz der vielen Änderungen in seinem Leben hielt Edmond Charlot an seiner Arbeit fest bis es nicht mehr ging.

Ein wunderbar, einfühlsames Buch mit viel Sorgfalt und Liebe zur Literatur geschrieben.

PS. Bei meinem nächsten Besuch in Algier werde ich in die Rue Hamami gehen... Tatsächlich habe ich Anfang Juni 2019 die Bibliothek besucht. 


zum Angebot