Donnerstag, 21. Mai 2015

Rezension Germaine Tillion - Die gestohlene Unschuld

Germaine Tillion
Rezension


Germaine Tillion - Die gestohlene Unschuld         
Hrsg. Mechthild Gilzmer

In diesen Tagen wird viel über das Ende des zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren gesprochen und geschrieben, Überlebende und Prominente reisen zu den Konzentrationslagern. Eines, dieser Lager war das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, rund einhundert Kilometer nördlich von Berlin am Schwedtsee. Hierher wurden von 1939 bis 1945 rund 132000 Frauen und Kinder aus 40 Nationen gebracht, darunter mehrere Tausend Französinnen, die in der „Résistance“ - im Widerstand gegen Deutschland organisiert waren. Germaine Tillion und ihre Mutter Emilie wurden in Paris aufgegriffen  und nacheinander als politische Gefangene nach Ravensbrück gebracht. Während ihre Mutter Emilie (1876-1945), die als Schriftstellerin im Verlag Hachette arbeitete und einige Reiseführer der Guides bleus schrieb, umkam, wurde Germaine im April 1945 befreit.

Herausgeber und Übersetzer
Das vorliegende Buch „Die gestohlene Unschuld - Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie“ wurde von Prof. Mechthild Gilzmer auf Deutsch übersetzt und herausgegeben, die zur Einführung den Essay „Germaine Tillion - ein Jahrhundertleben“ schrieb. Germaine Tillion wurde 101 Jahre alt.
Tzvetan Todorov wählte die zum Teil unveröffentlichten Texte aus und verfasste das ausführliche Nachwort „Germaine Tillion oder die Leidenschaft des Verstehen-Wollens“, in dem er darlegt, wie und warum er die Texte aus dem umfangreichen Nachlass aussuchte.

Das Buch
Das Buch ist in fünf große Kapitel eingeteilt und Phasen, die das Leben von Germaine Tillion besonders prägten. Jedes dieser Kapitel beginnt mit einem Bild der Ethnologin und einer biographischen Einleitung. Es folgen persönliche Texte, die in Ich-Form erzählt werden.

Als Ethnologin in Algerien
Von 1934 bis 1940 verbringt Germaine Tillion mehrere Jahre in Algerien, damals noch französische Kolonie, und studiert das Leben der Chaoui-Berber im Aurès-Gebirge im Osten des Landes. Sie lebte als beobachtende Wissenschaftlerin mit den Familien. Nachdem diese Vertrauen zu ihr fassten, wurde sie um Rat gebeten und bei Streitigkeiten als Schlichterin hinzugerufen.

Widerstand in Paris und Gefangennahme (1940 - 1943)
Nach ihrer Rückkehr in das besetzte Paris im Jahr 1940 war Germaine Tillion überrascht von der Situation vor Ort. Wegen ihrer Arbeiten und der Entfernungen im Aurès hatte sie keine Muße etliche Kilometer bis zu einem Radio durch die raue Bergwelt zu wandern und so war der Schock groß.
Zwischen 1940 und 1943 organisierte sie, wie im zweiten Kapitel beschrieben, ohne lange zu überlegen den Widerstand. Eine andere Lösung kam für sie nicht in Frage. Sie und ihre Kollegen bildeten die „Widerstandsgruppe des Musée de L’Homme“ in Paris, um Kriegsgefangenen zur Flucht zu verhelfen und Informationen in die befreiten Zonen nach England zu senden, bis sie selbst Opfer eines Verrats wurde. Zuerst war Germaine Tillion im Gefängnis, wo sie sogar ihre Schreibarbeiten aufnehmen und ihre Dissertation fast beenden konnte.

Leben und Sterben im KZ-Ravensbrück
Im dritten Kapitel schildert Germaine Tillion das Leben und Sterben im KZ-Ravensbrück, wohin sie und später ihre Mutter deportiert wurden. Sie beschreibt ihre Ankunft, die Einteilung in Gruppen und das Tragen von Lumpen mit roten (politische Gefangene), grünen (Kriminelle), violetten (Zeugen Jehovas) und schwarzen Dreiecken für „Asoziale“ und weitere Erinnerungen aus dem „kleinen Krankenzimmer der Diphterie-Patientinnen“, da sie selbst daran erkrankt war und die sie als „allererste Erfahrungen“ hervorhebt. Sie schreibt, dass in diesem Krankenzimmer ein Jahr später „dutzendweise Kranke vorsätzlich vergiftet“, in den Jahren vorher „tödliche Spritzen mit Öl oder Evipan“ verabreicht, andere „vor den Augen ihrer Gefährtinnen im Nachthemd aus dem Bett gezogen und auf die andere Seite der Mauer geschleift wurden, wo sich die Krematorien befanden“. Sie hebt aber auch die Solidarität unter den Frauen hervor. Sie selbst gehörte zur Gruppe der „Verfügbaren“, wurde zu Erdarbeiten eingeteilt und verstand es sich zu verstecken. Die „Nacht-und-Nebel“-Häftlinge, zu denen Germain Tillion gehörte, wurden nach Verhandlungen vom schwedischen Roten Kreuz am 23. April 1945 befreit. Dazu schreibt sie: „Dass ich überlebt habe, verdanke ich ganz gewiss vor allem dem Zufall, sodann der Wut, dem Wunsch, die Verbrechen ans Licht zu bringen und nicht zuletzt der Solidarität meiner Freunde“.

Nach dem Krieg
Die Verbrechen ans Licht zu bringen, dafür setzte sich Germaine Tillion nach ihrer Befreiung vor allem ein, zuerst bei Gerichtsprozessen gegen das Wachpersonal in Ravensbrück, später in Algerien, während des Befreiungskrieges der Algerier gegen die französische Kolonialmacht, der gerade begonnen hatte. Sie beschreibt die Abläufe der Prozesse, an denen sie als Beobachterin teilnahm und die Aufseher wiedersah. Dabei empfand sie ein „dumpfes Gefühl“ und fragte sich, ob es Hass oder auch eine Spur Mitleid war.

Wieder in Algerien
Im letzten Kapitel versuchte Germaine Tillion während ihrer Algerienaufenthalte zwischen 1954 und 1957 beide Seiten davon zu überzeugen, dass Folter und Hinrichtungen nur Bombenattentate als Reaktion darauf nach sich ziehen würden. Die ihr damals unbekannten Kämpfer der Befreiungsfront FLN gingen auf ihren Vorschlag ein, die Attentate einzustellen, aber auf der französischen Seite gingen die Folter und Hinrichtungen weiter.  

Ein Jahrhundertleben
In den einhundert Lebensjahren der Forscherin Germaine Tillion passieren zwei Weltkriege und der Unabhängigkeitskrieg Algeriens. Sie erleidet den zweiten Weltkrieg als KZ-Häftling und hat danach noch die Stärke, sich für die Algerier und gegen ihre Verelendung einzusetzen. Im Konzentrationslager überlebt sie so gut es geht und kann ihre schlimme Situation sogar noch in eine Operette verpacken, die 2007 uraufgeführt wird. Sie schreibt mehrere Bücher, hält Vorträge und engagiert sich für Abschaffung der Folter in Algerien und 2004 im Irak, und setzt sich für die Emanzipation der Frauen im Mittelmeerraum ein.


Fazit:
Ein sehr beeindruckendes und bewegendes Buch, das zum Nachdenken anregt. Der Herausgeber Tzvetan Todorov hat die Schriften sortiert und unveröffentlichte Texte so zusammengestellt, dass man die „Fragmente des Lebens“, wie der Titel des französischen Originals lautet, gut lesen kann. Im Anhang werden hauptsächlich die Personen beschrieben, mit denen Germaine Tillion zu tun hatte. 
Sicherlich haben nur wenige Menschen in ihrem Leben diese extremsten Erfahrungen erlitten und sind nicht daran zerbrochen,  sondern haben den Mut aufgebracht und sich weiter für andere Menschen eingesetzt. Sehr empfehlenswert, gerade in der heutigen Zeit.


Termine zum Gedenken an Germaine Tillion
Ganz zu Recht werden die sterblichen Überreste Germaine Tillions am kommenden Mittwoch, 
den 27. Mai 2015 in das Panthéon in Paris zu den „Großen Persönlichkeiten der Nation“ überführt, der 2013 als "Journée nationale de la Résistance", als in Frankreich landesweiter staatlicher Gedenktag, festgelegt wurde.


Am Dienstag, 6. Oktober 2015  findet in Berlin eine Veranstaltung statt, bei der Prof. Dr. Mechthild Gilzmer das Buch „D’une Algérie à l’autre“ von Germaine Tillion vorstellt.
Ort: Stiftung Topographie des Terrors Berlin, Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin. 18 Uhr