Germaine Tillion |
Germaine Tillion
- Die gestohlene Unschuld
Hrsg. Mechthild Gilzmer
In diesen Tagen wird viel über das Ende des zweiten
Weltkriegs vor 70 Jahren gesprochen und geschrieben, Überlebende und Prominente
reisen zu den Konzentrationslagern. Eines, dieser Lager war das
Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, rund einhundert Kilometer nördlich von
Berlin am Schwedtsee. Hierher wurden von 1939 bis 1945 rund 132000 Frauen und
Kinder aus 40 Nationen gebracht, darunter mehrere Tausend Französinnen, die in
der „Résistance“ - im Widerstand gegen Deutschland organisiert waren. Germaine
Tillion und ihre Mutter Emilie wurden in Paris aufgegriffen und nacheinander als politische Gefangene nach
Ravensbrück gebracht. Während ihre Mutter Emilie (1876-1945), die als
Schriftstellerin im Verlag Hachette arbeitete und einige Reiseführer der Guides
bleus schrieb, umkam, wurde Germaine im April 1945 befreit.
Herausgeber und
Übersetzer
Das vorliegende Buch „Die gestohlene Unschuld - Ein Leben
zwischen Résistance und Ethnologie“ wurde von Prof. Mechthild Gilzmer auf
Deutsch übersetzt und herausgegeben, die zur Einführung den Essay „Germaine
Tillion - ein Jahrhundertleben“ schrieb. Germaine Tillion wurde 101 Jahre alt.
Tzvetan Todorov wählte die zum Teil unveröffentlichten
Texte aus und verfasste das ausführliche Nachwort „Germaine Tillion oder die
Leidenschaft des Verstehen-Wollens“, in dem er darlegt, wie und warum er die
Texte aus dem umfangreichen Nachlass aussuchte.
Das Buch
Das Buch ist in fünf große Kapitel eingeteilt und Phasen,
die das Leben von Germaine Tillion besonders prägten. Jedes dieser Kapitel
beginnt mit einem Bild der Ethnologin und einer biographischen Einleitung. Es
folgen persönliche Texte, die in Ich-Form erzählt werden.
Als Ethnologin in
Algerien
Von 1934 bis 1940 verbringt Germaine Tillion mehrere
Jahre in Algerien, damals noch französische Kolonie, und studiert das Leben der
Chaoui-Berber im Aurès-Gebirge im Osten des Landes. Sie lebte als beobachtende
Wissenschaftlerin mit den Familien. Nachdem diese Vertrauen zu ihr fassten,
wurde sie um Rat gebeten und bei Streitigkeiten als Schlichterin hinzugerufen.
Widerstand in
Paris und Gefangennahme (1940 - 1943)
Nach ihrer Rückkehr in das besetzte Paris im Jahr 1940
war Germaine Tillion überrascht von der Situation vor Ort. Wegen ihrer Arbeiten
und der Entfernungen im Aurès hatte sie keine Muße etliche Kilometer bis zu
einem Radio durch die raue Bergwelt zu wandern und so war der Schock groß.
Zwischen 1940 und 1943 organisierte sie, wie im zweiten
Kapitel beschrieben, ohne lange zu überlegen den Widerstand. Eine andere Lösung
kam für sie nicht in Frage. Sie und ihre Kollegen bildeten die „Widerstandsgruppe
des Musée de L’Homme“ in Paris, um Kriegsgefangenen zur Flucht zu verhelfen und
Informationen in die befreiten Zonen nach England zu senden, bis sie selbst
Opfer eines Verrats wurde. Zuerst war Germaine Tillion im Gefängnis, wo sie
sogar ihre Schreibarbeiten aufnehmen und ihre Dissertation fast beenden konnte.
Leben und Sterben
im KZ-Ravensbrück
Im dritten Kapitel schildert Germaine Tillion das Leben
und Sterben im KZ-Ravensbrück, wohin sie und später ihre Mutter deportiert
wurden. Sie beschreibt ihre Ankunft, die Einteilung in Gruppen und das Tragen
von Lumpen mit roten (politische Gefangene), grünen (Kriminelle), violetten
(Zeugen Jehovas) und schwarzen Dreiecken für „Asoziale“ und weitere Erinnerungen
aus dem „kleinen Krankenzimmer der Diphterie-Patientinnen“, da sie selbst daran
erkrankt war und die sie als „allererste Erfahrungen“ hervorhebt. Sie schreibt,
dass in diesem Krankenzimmer ein Jahr später „dutzendweise Kranke vorsätzlich
vergiftet“, in den Jahren vorher „tödliche Spritzen mit Öl oder Evipan“
verabreicht, andere „vor den Augen ihrer Gefährtinnen im Nachthemd aus dem Bett
gezogen und auf die andere Seite der Mauer geschleift wurden, wo sich die
Krematorien befanden“. Sie hebt aber auch die Solidarität unter den Frauen hervor.
Sie selbst gehörte zur Gruppe der „Verfügbaren“, wurde zu Erdarbeiten
eingeteilt und verstand es sich zu verstecken. Die „Nacht-und-Nebel“-Häftlinge,
zu denen Germain Tillion gehörte, wurden nach Verhandlungen vom schwedischen
Roten Kreuz am 23. April 1945 befreit. Dazu schreibt sie: „Dass ich überlebt habe, verdanke ich ganz gewiss vor allem dem Zufall,
sodann der Wut, dem Wunsch, die Verbrechen ans Licht zu bringen und nicht
zuletzt der Solidarität meiner Freunde“.
Nach dem Krieg
Die Verbrechen ans Licht zu bringen, dafür setzte sich
Germaine Tillion nach ihrer Befreiung vor allem ein, zuerst bei
Gerichtsprozessen gegen das Wachpersonal in Ravensbrück, später in Algerien,
während des Befreiungskrieges der Algerier gegen die französische Kolonialmacht,
der gerade begonnen hatte. Sie beschreibt die Abläufe der Prozesse, an denen
sie als Beobachterin teilnahm und die Aufseher wiedersah. Dabei empfand sie ein
„dumpfes Gefühl“ und fragte sich, ob es Hass oder auch eine Spur Mitleid war.
Wieder in Algerien
Im letzten Kapitel versuchte Germaine Tillion während
ihrer Algerienaufenthalte zwischen 1954 und 1957 beide Seiten davon zu
überzeugen, dass Folter und Hinrichtungen nur Bombenattentate als Reaktion
darauf nach sich ziehen würden. Die ihr damals unbekannten Kämpfer der
Befreiungsfront FLN gingen auf ihren Vorschlag ein, die Attentate einzustellen,
aber auf der französischen Seite gingen die Folter und Hinrichtungen weiter.
Ein
Jahrhundertleben
In den einhundert Lebensjahren der Forscherin Germaine
Tillion passieren zwei Weltkriege und der Unabhängigkeitskrieg Algeriens. Sie
erleidet den zweiten Weltkrieg als KZ-Häftling und hat danach noch die Stärke,
sich für die Algerier und gegen ihre Verelendung einzusetzen. Im Konzentrationslager
überlebt sie so gut es geht und kann ihre schlimme Situation sogar noch in eine
Operette verpacken, die 2007 uraufgeführt wird. Sie schreibt mehrere Bücher,
hält Vorträge und engagiert sich für Abschaffung der Folter in Algerien und
2004 im Irak, und setzt sich für die Emanzipation der Frauen im Mittelmeerraum
ein.
Fazit:
Ein sehr beeindruckendes und bewegendes Buch, das zum
Nachdenken anregt. Der Herausgeber Tzvetan Todorov hat die Schriften sortiert
und unveröffentlichte Texte so zusammengestellt, dass man die „Fragmente des
Lebens“, wie der Titel des französischen Originals lautet, gut lesen kann. Im
Anhang werden hauptsächlich die Personen beschrieben, mit denen Germaine
Tillion zu tun hatte.
Sicherlich haben nur wenige Menschen in ihrem Leben diese
extremsten Erfahrungen erlitten und sind nicht daran zerbrochen, sondern haben den Mut aufgebracht und sich weiter
für andere Menschen eingesetzt. Sehr empfehlenswert, gerade in der heutigen
Zeit.
Termine zum
Gedenken an Germaine Tillion
Ganz zu Recht werden die sterblichen Überreste Germaine
Tillions am kommenden Mittwoch,
den 27.
Mai 2015 in das Panthéon in
Paris zu den „Großen Persönlichkeiten der Nation“ überführt, der 2013 als "Journée
nationale de la Résistance", als in Frankreich landesweiter staatlicher
Gedenktag, festgelegt wurde.
Am Dienstag, 6.
Oktober 2015 findet in Berlin eine Veranstaltung
statt, bei der Prof. Dr. Mechthild Gilzmer das Buch „D’une Algérie à l’autre“
von Germaine Tillion vorstellt.
Ort: Stiftung Topographie des Terrors Berlin,
Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin. 18 Uhr