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Lenos
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Rezension
DEZEMBERKIDS
Kaouther Adimi
Und wieder hat Kaouther Adimi einen brillanten Roman veröffentlicht, der die algerische Gesellschaft von heute treffend beschreibt.
Das vierte Buch führt den Leser nach Algier, der
Hauptstadt des größten Landes in Afrika. Sie hat zwar nicht so viele Einwohner
wie Kairo oder Lagos, aber der tägliche Verkehr und die Wohnungsnot nerven die
Leute genauso wie in den anderen Metropolen. Von daher weichen die Leute, die
es sich leisten können, an die Ränder östlich und westlich von Algier aus, im
Idealfall mit Meerblick oder gleich nach Europa.
In Dély-Ibrahim, einem
Vorort im Westen, leben die Familien
der ehemaligen Armeeangehörigen in der Cité 11. Dezember 1960, die ab 1987
gebaut wurde. Der Roman dreht sich um Kinder, Jugendliche, ihre Familien und
einen, etwa eineinhalb Hektar großen Platz, der brach liegt und nach jedem
starken Regen von Schlamm bedeckt ist und den die Kinder zum Fußballspielen
hergerichtet haben. Seit Jahren kümmert sich niemand um den Platz, die Straßen
herum sind immer noch nicht asphaltiert. Auch die drei zehnjährigen Kinder,
Ines, Mahdi und Dschamil treffen sich regelmäßig, um hier Fußball zu spielen,
wobei Ines mächtig stolz ist, dass sie mit den Jungs so gut mithalten kann. Sie
ist die Enkelin von Adila.
Eines schönen Tages, es regnet in Strömen, Jussef und
seine Freunde rauchen am Platzrand, hält eine schwarze Limousine direkt am
Platz. Der Chauffeur reißt die Tür auf und hält einen Regenschirm über die
beiden Männer, die aussteigen. Sie tragen dunkle Anzüge, darüber Wollmäntel und
-Sonnenbrillen. Es können nur Generäle sein. Sie gehen auf den Platz und
schauen sich um. Da kommt Adila, die Freiheitskämpferin auf sie zu, grüßt und
fragt, was sie hier wollen? Die beiden reden von Bauarbeiten, die bald anfangen
werden, weil ihnen jetzt der Platz gehört, behaupten sie, doch jeder weiß, dass
sie sich den Platz unter den Nagel gerissen haben, und freuen sich auf eine
gute Nachbarschaft. Doch mit der Reaktion haben sie nicht gerechnet.
Just in dem Moment, in dem sie die Baupläne aus der
Tasche ziehen, hören sie ein lautes Kreischen. Die alte Rothaarige, ein
bisschen verrückt soll sie sein, schreit wütend: „Man will euch hier nicht. Man
will euch hier nicht.“ Adila zieht sie zur Seite und sie kommen auf Jussef zu,
der die Alte reden hört: „Sie nehmen ihn euch weg, alles nehmen sie euch
weg!...“ Die Jugendlichen gehen auf die
Generäle zu und schimpfen auf sie ein. Es kommt zu einem Handgemenge und Jussef
gelingt es dabei die Waffe des einen Generals aus der Hand zu schlagen. Sogar
Adila schlägt mit ihrem Stock zu. Die pensionierten Obersten Mohamed und Sherif
beobachten zuerst die Szene aus sicherer Entfernung, doch dann laufen sie auch
auf den Platz. Der Chauffeur kauert ängstlich hinter dem Lenkrad und ruft die
Polizei, die den Tumult auflöst. Jussef, sein Vater Mohamed und Adila werden
abgeführt und zum Verhör gebracht.
Die Aufregung ist groß. Schnell spricht sich herum, was
auf dem brachliegenden Bolzplatz passiert ist und sehr schnell verbreitet sich
die Geschichte über zwei verprügelte Generäle in den sozialen Medien, zu
schnell für manche. Die Zeitungen schreiben darüber, die Leute lachen und
freuen sich über den Mut der Jugendlichen.
Auf Ines, Mahdi und Dschamil hat keiner mehr geachtet.
Sie haben sich die Geschichte von den Jugendlichen erzählen lassen und gut
zugehört. Sie schmieden ihre eigenen Pläne. Sie lassen sich Zeit mit den
Vorbereitungen und dann im März, an einem Freitag, geht es los.
Die Autorin beobachtet genau, wie ihre Landsleute kennt
sie natürlich die Machenschaften der Oberen. Wie sie selbst sagt, ist Fußball
nicht nur das Spiel sondern auch eine Möglichkeit der Gesellschaft sich zu
äußern, sei es mit Gesängen, sei es mit Schlachtrufen, die versteckt die
Regierung treffen sollen.
Die Romanfiguren symbolisieren die algerische
Gesellschaft: Adila, die
Freiheitskämpferin steht für die erste Generation. Sie hat die Franzosen aus
dem Land vertrieben, hat Bomben in Cafés versteckt. Jasmin, ihre Tochter steht für die Frauen des Landes, die zusehen
muss, wie ihre Rechte immer mehr beschnitten werden. Mohamed und Sherif waren Obersten während des „schwarzen
Jahrzehnts“ und mussten dem Erstarken der Islamisten zusehen, wobei Mohamed vom
Glauben abfiel, was er natürlich niemandem erzählte. Die Generäle stehen für die übermächtige Armee bzw. die Mächtigen des
Landes, die sich alles erlauben können und die Diktatur der Politiker
überwachen. Jussef und seine Freunde sind die jetzige
Generation, die die Kriege nicht mehr erlebt haben. Sie haben ganz andere
Sorgen. Sie sind gut vernetzt, wissen was in der Welt passiert, sind im
Internet aktiv. Sie ducken sich nicht vor den „Mächtigen“, weil sie ihnen
nichts „verdanken“ müssen, außer der Misere des Landes. Mit den Kindern, die im Buch den Höhepunkt
herbeiführen, bilden sie die Zukunft. Die junge Generation, die seit Februar
2019 auf die Straße geht und einen friedlichen Übergang zur wirklichen
Demokratie fordert, wird bereits im Buch mit Jussef und seinen Freunden
angedeutet, womit die Autorin den aktuellen Hirak, die Bewegung, vorausgesehen
hat. Sie hat eine Auseinandersetzung zwischen jungen Leuten und Generälen zum Anlass für diesen Roman
genommen, die tatsächlich 2016 stattgefunden hat.
Auch das Nachwort der Übersetzerin Regina Keil-Sagawe soll erwähnt werden. Seit Jahren bringt sie uns die Schriftsteller Nordafrikas
näher. Sie übersetzt nicht nur aus dem Französischen, ebenso kennt sie die
Situation in den Ländern des Maghreb.
Fazit:
Mit ihrer heiteren, bisweilen witzigen und ironischen Art
beschreibt Kaouther Adimi treffsicher die Art und Weise, wie sich die
algerische Regierung verhält, die Angst vor der neuen Situation hat, die sie
nicht mehr beherrscht, was sie aber nicht einsehen will. Sie spannt mit ihren
Figuren einen Bogen von der Geschichte (Adila) bis zur Gegenwart (Jussef und
die Kinder) und bringt wie immer die Tatsachen genial auf den Punkt.
Ein absolut lesenswerter amüsanter Roman, der eine
Auszeichnung verdient.