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Sujet |
Rezension
MAISSA BEY
Madame LaFrance
Das Kind hütet Ziegen, es schaut auf das Meer und sieht
Schiffe aus dem morgendlichen Dunst auftauchen, immer mehr, Hunderte mit
Matrosen und Soldaten und Kanonen.
Die weiße Stadt
erwacht, es ist Algier am Ende der osmanischen Zeit. Die Einwohner wissen noch
nicht, was das Kind schon gesehen hat. Bald werden sie sich an die Kämpfe
erinnern müssen. Es ist der 14. Juni 1830, als 37000 Mann einige Kilometer
westlich von Algier an Land drängen und die weiße Stadt erobern. Der Beginn der
Unterdrückung, Ausbeutung und des französischen Terrors in Algier, Oran,
Constantine und allmählich des ganzen Landes.
Madame LaFrance
ist angekommen.
Sie bringt kräftige Männer mit, die für sie die Sümpfe
trocken legen, die für sie Straßen und Brücken bauen, die für sie Eisenbahnlinien
verlegen, die für sie und nur für sie
Felder bestellen und reiche Ernte einfahren, die das Mutterland dringend
benötigt.
Madame LaFrance
ist ehrgeizig.
Sie will, dass die Kinder der Araber zur Schule gehen und
ihr Land lieben. Deshalb müssen sie jeden Morgen den Satz wiederholen: Ich
liebe mein Land, Frankreich.
Wenn die Väter und Mütter des Landes sich wehren, werden
sie in Höhlen getrieben mitsamt ihren Kindern, Nachbarn, Ochsen und Pferden.
Dann wird die Höhle verschlossen und angezündet. Ganze Dörfer wurden dadurch
ausgerottet. Warum ist das Kind an diesem Morgen aus dem Zelt gekrochen und hat
sich auf dem Hügel versteckt? So hat es das Unglück mitansehen müssen.
Allerdings kann es dadurch von dem Unfassbaren berichten, später, wenn es groß
ist. Denn einem Kind würde man nicht glauben.
Madam LaFrance ist
stolz.
Endlich ist es geschafft. Die Aufrührer vernichtet, das
Land besetzt und eingenommen. Nun können
die Siedler kommen. Lange genug hat es gedauert und schwierig war es, die
Aufstände niederzuschlagen. In Amerika ging es besser. Die Rothäute wurden mit
Feuerwasser besiegt, aber die Araber trinken nicht. Andere Mittel mussten
angewendet werden.
Madame LaFrance
kann sich auf ihre treuen Untergebenen verlassen.
Ihre Barone, Fürsten, Akademiker, Soldaten der
französischen Revolution. Dass ihre Strategien in Algerien auf so großen
Widerstand stoßen, damit hat Madame nicht gerechnet. Dieses „hinterwäldlerische
Volk“ wird nicht gehorsam, nicht dankbar, wehrt sich, hinterfragt die Macht von
Madame LaFrance, will sie verjagen, dieser Emir Abdelkader und seine Anhänger,
was erlaubt er sich?
Aber ihre treu ergebenen Strategen haben Erfahrung, sie
werden mit den „zerlumpten, schmierigen Habenichtsen..“ schon fertig. Die
Siedler vertreiben die rechtmäßigen Besitzer von ihren Feldern und siedeln
ganze Dörfer um, trennen Familien und sperren sie in Lager.
Madame LaFrance
hört nicht auf die warnenden Stimmen.
Sie hört nur, was sie hören will. Sie ist die „Herrscherin
über ihre Ländereien“ und erfreut sich beim Anblick der Kirchen und Paläste auf
denen die Trikolore in der afrikanischen Sonne flattert. Auf den Rathäusern
liest sie zufrieden die Worte: „FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT“. Sie
glaubt, ihre algerischen Kinder haben sich mit ihrer Präsenz abgefunden und
lieben ihr neues Vaterland, für das sie schon in den Krieg ziehen mussten, im
fernen Europa (1870/71).
Das Kind sieht
alles, hört alles, es lernt, es geht zur Schule und lernt. Die Lehrerin redet
von Zivilisation, sie wiederholt das
Wort oft. Davon, dass sie aus den Kindern kleine
gute Franzosen machen wird, die sauber sind, sich jeden Morgen waschen,
rechnen und Französisch lernen. Sie will ihnen beibringen, wie man „Gemüse und
Obstbäume“ anpflanzt, Frankreich, das Heimatland zu lieben, nützlich und
ehrlich zu sein.
Das Kind weiß
eigentlich gar nicht, was das Wort Zivilisation
für es bedeuten soll. Denn schon bevor Madame LaFrance in sein Land kam,
konnten der Vater und der Großvater das Land bestellen, es gab Oliven, Feigen,
Orangen, Weintrauben in Hülle und Fülle, sie lebten gut von der Ernte. Sauber
sind sie auch, denn vor jedem Gebet wäscht man sich, nicht nur einmal am
Morgen, sondern fünfmal am Tag! Sie
konnten auch schon lesen, bevor Madame LaFrance kam, nämlich arabisch und den
Koran.
Das Kind fragt
sich, ob Zivilisation heißt so zu
werden, wie die Franzosen? Aber wie soll es ein guter Franzose werden, wenn es
bereits ein guter Araber ist ?
Das Kind traut sich nicht, seine Lehrerin Madame LaFrance
dies zu fragen, es erträgt das Schicksal „Mektoub“ - noch!
Madame LaFrance
ist vorsichtig.
Die Gewehre sind stets geputzt und einsatzbereit.
Das Kind sieht
die Entwicklung voranschreiten. Es sieht, wie sich Madame LaFrance feiern
lässt, mit einem großartigen Jahrmarkt in Paris zum 100jährigen Bestehen der
Kolonie in Algerien.
Es beobachtet die schweren, grausamen Schicksalsschläge,
die sein Land noch erleben muss, bevor es endlich zurückschlägt und die elenden
französischen Terroristen aus seinem Land vertreiben kann.
Autorin:
Maissa Bey
heißt eigentlich Samia Benameur und wurde 1950 in der Nähe von Algier geboren.
Sie studierte Romanistik und arbeitete als Pädagogin. Im Kontext der blutigen
Auseinandersetzungen, die ihr Land während des sogenannten schwarzen Jahrzehnts
(1992-2002) überkamen, begann sie unter dem Namen ihrer Großmutter zu schreiben.
Maissa Bey, die sich selbst als „Araberin von Geburt, Kultur und Sprache, tief
geprägt von der muslimischen Kultur und Tradition“ bezeichnet, wählt die Ausdrucksform
der Literatur, um mehr zu sein als eine stumme, passive Zeugin im Angesicht
ihrer gewaltsamen und herausfordernden Zeitgeschichte.
Maissa Bey lebt und arbeitet in Sidi Bel Abbes in
Algerien. (Verlag)
Fazit:
Maissa Bey untersucht in ihren Büchern Ausgeblendet und Madame LaFrance die Beziehung zwischen Algerien und Frankreich.
Dazu greift sie einzelne Tatsachen aus der Geschichte auf, um menschliche Schicksale (Begegnung zweier
Personen, Verhöre, Folter, Tod in Ausgeblendet) oder die Kolonialisierung
Frankreichs in Algerien (Madame LaFrance) zu beleuchten.
Sie macht sich intensiv Gedanken, wie diese
unmenschliche, grausame Zeit für heutige Leser nachvollziehbar wird und
entwickelt die Allegorie des unschuldigen Kindes, das mitansehen muss wie ihm
sein Land von Fremden weggenommen wird. Es kann nicht verstehen, warum Fremde
kommen und diktieren, was seine Eltern, Geschwister, Nachbarn zu tun und zu
sagen haben - erstaunt, hilflos und machtlos.
Das Kind Algerien beobachtet die arrogante Dame
Frankreich, die sich in seinem Land breitmacht, nimmt, was es will.
Aus der Sicht der Madame Frankreich stellt sich die
Geschichte anders dar. Man muss den „Wilden“ die Zivilisation bringen. Wenn sie die nicht annehmen, müssen sie
vernichtet werden. Wir werden es ihnen schon zeigen, wie das geht. In unserem
Land, denn Algerien gehört zu Frankreich.
In 25 Kapiteln werden 132 Jahre Kolonialisierung und der
Widerstand dagegen präzise reflektiert und ergreifend dargestellt. Ein Kind,
das beobachtet und erlebt ist für den Leser ein besserer Protagonist als eine
unpersönliche Masse von Menschen in einem Land. Und Frankreich die
Persönlichkeit einer „Madame“ - einer Diva - zu geben, die das Kind bedroht,
wirkt für den Leser greifbarer und nachvollziehbar, als nur die Beschreibung
unpersönlicher Tatsachen der Geschichte als Ganzes - ein genialer Einfall der
Schriftstellerin.
Ein intensives, beeindruckendes und betroffen machendes
Buch, weil es die Taten und Tatsachen ausspricht und nicht „unter den Teppich
kehrt“ oder „Ereignisse“ daraus macht, die während der Besetzung Frankreichs
von 1830 bis 1962 und während des Unabhängigkeitskrieges von 1954 bis 1962
geschehen sind.
Ein herausragendes
Dokument, unbedingt lesenswert.
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